Kurzgeschichten
Als der Weihnachtsstern die
scharfe Cilie niedermachte

Der Winter naht. Die Sonne steht später auf und versinkt immer früher. Das merken auch die Pflanzen im Gewächshaus. Obwohl sich hier noch üppiges Durcheinander von Tomaten, Chilis, Paprikas und Gurken drängelt, zeigen alle den morbiden Charme des Vergehens.

Der kecken Kirsch-Chili gleich links am Eingang sieht man die Jahreszeit nicht an. Ihre prallen roten Früchte glänzen wie lackiert. Auch noch ganz proper stemmt der Spitzpaprika seine fast zwanzig Zen-timeter langen Früchte. Die beiden rangeln ein wenig um Aufmerksamkeit. „Schau ruhig genau hin“, frotzelt der Paprika, „nach den Gurken hab ich die größten Dinger“. „Angeber“, faucht die Chili, „als ob es auf die Größe ankommt. Meine Bällchen haben das kräftigste Rot und schmecken sauscharf“. „O la la scharfe Nachba¬rin, wie heißt Du denn?“ „Cilie, ich stamme aus Venedig“. „Oh, eine Italienerin, das passt zu mir. Ich komme zwar aus Spanien, aber meine Vorfahren stammen aus der Poebene. Pepe heiße ich.“ „Pü“, keift Cilie, „ich bin Venezianerin, keine einfache Italienerin. Das schreib Dir mal hinter die Blätter.“ „Tschuldigung Cilie, ich wollte Dich nicht kränken. Lass uns die letzten Tage genießen. Lange machen wir es nicht mehr.“

Wie recht Pepe hat. Schon am nächsten Tag schneidet der Hausherr unter Weh und Aua die  Tomaten-sträucher ab. Die unreifen Tomaten baumeln zum Nachreifen wie Wäsche auf einer Leine im Gewächs-haus. Die Chilis bekommen nur ein paar Tage Galgenfrist. Schnipp schnapp trennt sie die Schere von den Zweigen: erst die roten und grünen Glocken-Chilis, dann die gelben Habaneros, die grünen Jalapeno und die heißen Rawits. So sehr sie auch giften und ihren scharfen Atem ausstoßen... Game over.

Cilie und Pepe beobachten das grausige Treiben.  „Mein Gott“, wispert Cilie ängstlich zu ihrem Nach-barn, „hört das denn gar nicht auf?“ „Das ist nun mal der Lauf der Dinge“, flüstert Pepe mit vor Angst zit-ternder Stimme. Auch wir müssen bald Platz machen für die Überwinterungs-Pflanzen.“  Ein Hoffnungs-schimmer erhellt die Stimmung, als die Hausfrau vorschlägt, Kirsch-Chili und Spitzpaprika doch stehen zu lassen. „Hin und wieder eine frische Chili in der Küche ist doch was Feines. Und die Paprikas können ja noch ein bisschen Rot zulegen.“ „Na gut“, brummt der Hausherr, „alles andere muss aber raus, damit ich das Glashaus mit Polsterfolie isolieren kann.“

„Das war knapp“, seufzt Cilie. „Hab keine Angst“, tröstet Pepe seine hübsche Nachbarin und streichelt einen ihrer Zweige. „Danke, Pepe“, flötet Cilie“ und lässt es geschehen. Doch dieser friedliche Augen-blick vergeht recht schnell. Der Hausherr macht weiter Tabula Rasa. Jetzt sind die winzigen Chilis am Boden dran. Ihr Protest geht im Scherengeräusch unter. Ihre Schreie verstummen, sobald sie in den Korb purzeln. Dann ist Pepes Bruder dran. Eine einzige mickrige Frucht trägt er, ein Liliputaner im Ver-gleich zu Pepes Dingern. Ganz ungeschoren bleiben die beiden aber auch nicht. Der Hausherr kappt drei weit ausladende Zweige. „Brutaler Kerl“, flucht Cilie giftig, als ihr Lebenssaft auf den  Boden tröpfelt. Und auch Pepe wird zwangsamputiert. “Kapillaren pressen“, weist er Cilie an, „damit sich die Wunden schnell verschließen“. Sie überleben, sehen aber wahrlich ziemlich gerupft aus.

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Die nächsten Tage bleiben unruhig. Dicke Luftpolsterfolie klammert sich an Wände und Dach. Manch-mal löst sich ein Teil und Cilie und Pepe müssen sich ducken, bis es der Hausherr wieder hochhängt. Dann ziehen drei hohe Tomatenpflanzen in Blumenpötten ein. Alle tragen Rispen mit mittelgroßen Früchten. „Seid ihr nicht ein bisschen spät dran?“ nörgelt Pepe „und scheckig seid ihr auch“. „Wir sind nicht scheckig, sondern gestreift“, entrüstet sich die größte Pflanze,  „uns seltene Zebratomaten kid-nappte die Hausfrau von der Insel Reichenau. Man hat uns einfach viel zu spät ausgesät, und nun brauchen wir eben etwas länger zur Reife. Also macht Platz, wir brauchen ´ne Menge Licht.“  „Interes-sant“, mischt sich Cilie ein, „mich haben sie aus Venedig mitgebracht und Pepe aus Mallorca. Wir haben also alle eine Geschichte.“ „Wie wahr, “ murmeln die drei Zebras.
Je unwirtlicher es draußen wird, umso enger wird es im Gewächshaus. In einer Ecke ducken sich Kak-teen. An der Wand hängen kopfüber trockene Geranienmumien. In der Ecke schweigt die voluminöse afrikanische Wasserlilie.

Von den Kapstachelbeeren, auch Physalis genannt, ragen nur noch Stümpfe aus den Töpfen. Nur eine dieser Gat¬tung trägt noch immer grüne Blätter. „Hello, ich bin Physi, schäkert sie mit Pepe. „Ich bin für den Nachwuchs zuständig, wenn diese trockenen Strünke im Frühjahr nicht mehr aus dem Winterschlaf erwachen.

 „Hey, Physi“,  klinkt sich Cilie ein, „ich dachte schon, es wird hier stocklangweilig“. „Na, na, ich bin ja auch noch da“, meldet sich die Wasserlilie. „Ich muss zwar den ganzen Winter meditieren, damit ich im Frühjahr viele Blütentriebe herausdrücken kann, aber ein bisschen Konversation ist schon drin.“  „Tut das weh“ fragt Pepe? „Nö“, kichert die Wasserlilie, „im Gegenteil, was meint Ihr, wie niggelig das ist, wenn die Menschen zwischen meinen Blättern nach Trieben wühlen. Übrigens, auch ich wurde hier aus winzigen Samen selbst gezogen. Und nun bin ich sooo schön und groß.

 „Donnerwetter“, begeistert sich Pepe, „du siehst so gesund und grün aus, schade dass du so weit weg stehst, mit dir würde ich gerne mal kuscheln.“ „Treulose Paprika“  empört sich Cilie, „kaum kommt was Grüneres daher, interessierst du dich nicht mehr für mich. Du hast Glück, dass sich dein Bild in der Lustpolsterfolie nicht mehr spiegelt. Du würdest mit deinen hängenden Blättern um deine Liquidierung betteln“, antwortet Cilie ziemlich arrogant. Als hätte es der Hausherr gehört, schnibbelt er die prächtigen Paprikaschoten von den Zweigen und reißt Pepe mitsamt seiner Wurzeln aus der Erde. „Nur die Hölle kennt die Rache einer verschmähten Venezianerin“,  ist  Pepes letzter Seufzer, bevor er in die Biotonne fliegt.

Auch den Zebras geht es an die Weichteile. Weiße Fliegen saugen ihnen den Saft aus den Blättern. Der Hausherr schneidet die Früchte ab und der Rest wandert auf den Komposthaufen. Im Gewächshaus wird es ruhig. Die Wasserlilie meditiert lieber, als sich mit der scharfen Cilie zu unterhalten. Zumal sie für einen näheren Kontakt zu  weit entfernt steht. Auch Physi investiert ihre ganze Kraft in die Produktion möglichst vieler Ableger. Schließlich geht es um den Erhalt der Familie.

Draußen regiert der Winter. Nur mit Mühe hält der Heizlüfter die Temperatur im frostfreien Bereich. Für Cilie keine optimalen Bedingungen. Obwohl ihre Früchte weiterhin pralle Verführung ausstrahlen, welken ihre Blätter. „Hoffentlich werde ich nicht depressiv“, grübelt sie. Plötzlich geht die Tür auf. Mit dem kalten Luftschwall, der ihr fast das Leben nimmt, wird ein prächtig blühender Weihnachtsstern direkt neben ihr platziert.

„Nur wegen der dicken, fetten Tanne muss ich in dieses kalte Loch“, schimpft der Stern. „O lala“, flötet Cilie in höchsten Tönen. „Ich bin Cilie, die superscharfe Kirsch-Chili. Du bist ja eine prächtige Blütengestalt. Angenehm, dich berühren zu können.“ „Ich bin Pascua, sei lieber vorsichtig“, warnt der Weihnachtsstern. „Viele Pflanzen vertragen die Berührung mit mir nicht.“ „Das ist mir egal“, stöhnt Cilie im Liebestaumel. „Für das Ende dieser Einsamkeit gebe ich alles hin.“ „Wie du willst“, raunzt Pascua. „Vielleicht kein so schlechter Tausch mit der Ecke im Wintergarten. Also denn Cilie, frohe Weihnachten, wenn du weißt was das heißt“. Irgendwie steht der prächtige Stern nicht ganz sicher. Er fällt einfach über Cilie her…. Pascua wird ein bisschen blass und Cilies rote Bällchen leuchten auf wie glänzende Christbaumkugeln.

© Fischer + Siegmund 2009
 

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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