Kurzgeschichten
Der Engel mit der Mütze

Wie alle Jahre packten die zwei alten Leute vor dem 1. Advent den Weihnachtskarton aus, um das Wohnzimmer zu dekorieren. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich viel an Krims-Krams, noch von den Kindern Gebasteltes, Geschenktes und auf Weihnachtsmärkten selbst Erstandenes angesammelt, das aber meistens im Karton blieb. Wie jedes Jahr entschieden sie sich für die Hutschenreuther Weihnachtsglocken, für die Pyramide aus dem Erzgebirge, für die vergoldete Nikolausrute und für den hölzernen Nussknacker.

Als die Frau den Kartondeckel verschließen wollte, glaubte sie ein leises Rufen zu vernehmen. „Und ich? Darf ich dieses Jahr nicht heraus?“ Die Frau öffnete erneut den Karton. Da erblickte sie den Keramik-Engel, den sie schon als kleines Mädchen von den Eltern geschenkt bekommen hatte. Voller Zärtlichkeit holte sie ihn aus dem dunklen Karton. Wie konnte sie ihn nur vergessen. Sein Gesichtchen war ihr vertraut wie die erste Puppe. Ein  Stück Kindheit. Liebevoll hielt sie ihn in ihrer Hand und betrachtete ihn seit Jahrzehnten erstmals genauer. Das gelbe Hängerkleidchen mit den Rosenblüten. In den Armen zwei kirschgroße rote Becher als Kerzenhalter. So stand er auf einem Stern, der wie ein goldgelber Keks aussah. Von dem hellblauen Flügelpaar war eine winzige Spitze abgebrochen. Immerhin waren fast 70 Jahre vergangen und er hatte dreizehn Umzüge mitgemacht. Das einzige Relikt aus ihrer Kindheit. Und noch nie hatte sie ihn so genau betrachtet wie jetzt.

Der Engel mit der Muetze1

Ein fast unmerkliches Lächeln huschte über das Engelsgesicht, ganz zart und sehr selbstbewusst. Und so vertraut, weil sie sich ja schon so lange kannten. Und trotzdem wurde der Frau erstmals bewusst, dass der Engel eine Mütze trug. Eine Mütze so gelb wie das Gewand, die Form wie eine Tarnkappe, deren vordere Enden leicht abstanden, als seien sie vom Fliegen nach hinten geklappt.

Die beiden lächelten sich gerührt an und wussten instinktiv, dass es so nicht weitergehen dürfte mit den elf Monaten im Karton. Die alte Frau überlegte. Sie kannte niemanden, der sich nach ihrem Tod einen Reim auf den Engel machen könnte. Er würde in der Mulde landen. Das musste sie verhindern. „Wir finden für Dich ein Zuhause“, raunte sie dem Engel zu. Und der schickte ihr ein vertrauensvolles Lächeln. „Du schaffst das schon!“
 
Ob es ein berühmter Engel war? Vielleicht wertvoll? Die Frau suchte im Internet nach Engeln mit Mütze. Sie fand viele Engel: mit wallenden Locken, mit Heiligenschein, mit Krone, ja sogar mit Smartphone und Skatboard, aber keinen mit einer schlichten Mütze. Dann besah sie sich den Engel von unten. Da standen eine Nummer drauf und ein komisches Zeichen. Mit der Lupe erkannte sie nach mühsamem Interpretieren eine Art Fachwerkhaus mit Spitzgiebel und darunter eine Katze mit Buckel. Gab es eine Porzellan- oder Keramikfirma mit Katzenlogo?
 
Sie suchte im Internet nach Porzellanfabriken und wurde fündig. Porzellanfabrik Hertwig & Co in Katzhütte, Thüringen, 60 Kilometer Luftlinie zu ihren Heimatort Hof an der Saale. Vermutlich hatte ihn jemand Anfang der 50er Jahre den Eltern geschenkt, denn als schlesische Flüchtlinge hätten sie sicher kein Geld für Kunstobjekte ausgegeben. Das war ein Versuch wert. Die Fabrik gab es zwar nicht mehr, aber der Ort hat eine Homepage. Sie schrieb ins Gästebuch, schickte ein Foto vom Engel und eröffnete den Wunsch, den Engel in seine Heimat zurückgeben zu wollen, da sie keine Nachkommen habe. Nach ein paar Tagen erhielt sie die Antwort, man wolle die Anfrage an den Leiter der Heimatstube geben.
Wieder nach ein paar Tagen erhielt sie den Anruf. Ja, der Engel sei aus Katzhütte und man freue sich, dass sie ihn für das Porzellanzimmer des Heimatmuseums schenken wolle. Seine Tochter würde ganz in der Nähe wohnen, in Gundernhausen, also mal gerade vier Kilometer entfernt. Sie würde den Engel abholen und bei ihrem nächsten Heimatbesuch nach Katzhütte mitbringen. Da glänzten die Augen der alten Frau und einmal mehr nahm sie den Engel in die Hand. Am liebsten hätte sie sich bei ihm entschuldigt, weil sie ihn nun zum ersten Mal nach zig Jahren mit einem feuchten Tuch reinigte, die Kerzenschalen von altem Wachs befreite und die Äuglein mit  Wattestäbchen auswischte. Sie stellte ein Kästchen bereit mit einem weichen Tüchlein, in das sie den Engel betten wollte, wenn er abgeholt werde.

Und der Engel: Er verschenkte kein Lächeln mehr, sondern blickte nun vornehm und mutig, als wolle er sich auf seine letzte Reise vorbereiten. Nach Hause. Es war ein merkwürdiger Abschied. Die alte Frau war glücklich und traurig zugleich, als sie das Kästchen übergab. Als sie dann ein paar Wochen später ein Foto erhielt, das den Engel zusammen mit weiteren Keramikfiguren in einer Glasvitrine zeigte, waren sie und ihr Mann ganz sicher, dass dies der Stoff für die nächste Weihnachtsgeschichte sein müsste.

© Fischer + Siegmund 2018

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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