Kurzgeschichten
Ein Gipsarm unterm Weihnachtsbaum

17. Dezember 1951, Frühschicht auf Zeche Haus Aden. Am Schacht 1 läuft die Kohleförderung auf vollen Touren. Im gleichförmigen Rhythmus schieben Pressluftzylinder jeweils zwei leere Förderwagen in eine der vier Etagen des Förderkorbs und drücken dabei die vollen Kohlewagen auf der anderen Korbseite in den Kippumlauf. In großen Kippkreiseln verschwindet die Kohle mit ohrenbetäubendem Lärm und einer schwarzen Staubwolke im Förderkreislauf. Die leeren Wagen müssen zügig weiterlaufen. Deshalb helfen ein paar verstreute Männlein und ich, Stockungen zu vermeiden. Zwischen die Wagen darf nur die Hand greifen, hat uns der Vorarbeiter eingeschärft. Das fällt mir mit Schrecken ein, als ich einen Schlag auf den Ellenbogen spüre. Mein rechter Unterarm ist zwischen zwei Wagen gekommen und fast rechtwinklig abgeknickt. „Das ist nicht verstaucht“, schießt es mir durch den Kopf, „das ist gebrochen!“ In Panik packe ich mit der Linken das Gelenk der rechten Hand und renne mit lautem Geschrei in Richtung Sanitätsstation mitten auf dem Gelände. Irgendwann wird mir schwarz vor den Augen. Als ich zu mir komme, ist der Arm fertig geschient. Ab ins Krankenhaus nach Lünen. Zurück zur Zeche komme ich so kohlenstaubschwarz wie vorher, aber mit einem schneeweißen Gipsarm. „Die Nonnen hätten dich ruhig ein bisschen waschen können“, schimpft der Wärter der Steigerkaue. Er packt mich in eine Wanne, legt meinen Gipsarm auf ein Brett über der Wanne und wäscht mich wie ein Kind. Dabei bin ich inzwischen doch schon fünfzehn und schon acht Monate als Berglehrling auf der Zeche.

Am nächsten Tag bei der Nachschau im Krankenhaus gibt es Diskussionen. Ich will unbedingt zu Weihnachten nach Hause, bin aber für den Arzt nicht reisefähig. Am Ende siegt das Mitleid mit dem traurigen Jungen. In den zirkulären Armgips wird ein Längsschlitz gesägt und ich darf reisen, nur wie?

Mit einem Köfferchen mache ich mich am Freitag den 21. auf den Weg. Ich bin nicht allein. Hunderte drängeln sich auf dem Bahnsteig. Wie ich da mit nur einer Hand und Koffer in dem Gedränge bestehen soll, weiß ich nicht. Rücksicht gibt es hier kaum. Jeder ist sich selbst der Nächste und will heim. Wieder steigt Panik in mir auf. Das schaffe ich nie! Wie ein Wunder taucht plötzlich Ulli Stasch, ein Kumpel aus dem Lehrlingsheim, neben mir auf. Ein großer, starker Kerl, der auch aus dem Kreis Celle kommt. „Hey Bernhard, da können wir ja zusammen reisen, “ freut sich Ulli. „Da wird die Reise nicht so langweilig. Ach du meine Güte, dich hat’s aber kräftig erwischt,“ entfährt es ihm, als er meinen Gipsarm sieht. „Gib mal deinen Koffer“. Mit seiner Hilfe geht das Einsteigen plötzlich wie geschmiert. „Geh du vor“, schickt er mich ins Gedränge. „Vorsicht bitte, ich bin verletzt, machen sie bitte Platz!“ rufe ich, und drängele uns durch das Gewühl. Irgendwann sitzen wir in einem Abteil und fahren durchs Land. Während die Landschaft an uns vorbei zieht, hänge ich meinen Gedanken nach. Ich fühlte mich schon so erwachsen und jetzt mit meinem kaputten Arm wieder sehr klein und verletzlich.

Weil viele Sonderzüge unterwegs sind, gibt es lange Verspätungen. Als wir in Celle, unserer letzten Bahnstation ankommen, ist es kurz vor Mitternacht. Die geplanten letzten Busverbindungen, die ohnehin nicht bis in den kleinen Ort Walle fahren, sind längst weg. Ich versuche, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. In diesem Moment taucht mein Vati aus dem Gewühl auf. Nach Ulli der zweite Engel, der mich diesmal unerwartet rettet. Weil es in Niedersachsen ohne Arbeit keine Zukunft gab, erschien mein Vati im Sommer plötzlich bei mir im Lehrlingsheim. Er war mit dem Fahrrad auf dem Wege nach Hohenlimburg, wo er Arbeit und einen neuen Standort für die Familie fand. Jetzt war er, wie ich mit der Bahn auf dem Wege nach Hause. Kurzes erschrecktes Erstaunen über meinen Armgips. Dann legen wir unser Geld zusammen und chartern mit Ulli gemeinsam ein Taxi. Spät in der Nacht erreichen wir Walle. Die Familie ist glücklich vereint. Mutti ist natürlich entsetzt über meinen gebrochenen Arm. Trotz der sehr bescheidenen Verhältnisse: Zwei Zimmer für sechs Personen, Wasser wird im Eimer von der Pumpe geholt, das Plumps-Klo liegt zwanzig Meter über den Hof am Misthaufen, sind wir glücklich vereint.

Heiligabend sitzen wir Kinder dann vor dem Weihnachtsbaum. Vati schießt mit dem externen Blitz zu meiner Box, natürlich ohne Stativ, das Foto von den Kindern mit ihren Geschenken. Meine Schwester Christel, unsere jüngste, klammert sich verlegen an ihre neue Puppe. Gerd präsentiert stolz sein Quartettspiel und Wolfgang, er ist nur ein Jahr jünger als ich, hält auffällig unauffällig aber stolz seine erste Armbanduhr in die Kamera. Mit meinem Gipsarm kann ich offensichtlich gar nicht recht glauben, dass ich es Weihnachten bis nach Hause geschafft habe

Obwohl jetzt nach 62 Jahren nur noch Wolfgang und ich übriggeblieben sind, bekomme ich heute noch feuchte Augen, wenn ich an dieses Weihnachten in Walle zurückdenke.

© Fischer + Siegmund 2012

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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