Kurzgeschichten
Ein Reihenhaus für Willi und Susi

Die Männer kommen im Morgengrauen in einem großen Lastwagen. Mit schnaufendem Atem und lautem Klirren entladen sie schwere Eisenteile und verteilen sie rund ums Haus. Diese ungewohnte Geräuschkulisse wird geradezu zum Inferno, als sie beginnen daraus ein großes Ge-rüst zu montieren. Durchdringende Hammerschläge schallen durch die Gegend.

“Los, los, aufwachen und nichts wie raus!“ kreischt Willi. Die Spatzen stürzen sich aus ihren Nestern unter der Wandverkleidung und fliegen ziemlich wackelig auf den nahe stehenden Haselnussstrauch, wo sie erstmal ihre Federn putzen und ordnen. Das aufgeregte Durcheinandergezwitscher lockt auch die Bewohner der kleinen Spatzenkolonie am Nachbarhaus herbei. Aus der näheren Umgebung gesellen sich immer mehr Vögel zu der aufgeregten Gesellschaft. „Was ist eigentlich los?“ will die dicke Olga wissen. „Ja, Willi erzähl doch mal! Was die hier machen?“ „Ich bin viel zu aufgeregt“ bibbert Willi, „Susi weiß das sowieso viel besser als ich.“ „Ich habe gehört, dass ein neues Dach gebaut wird und die Verkleidung an den Giebeln erneuert werden soll“, schluchzt Susi. „Neeein“, kreischt Iris, „das können die doch nicht machen. Da sind doch überall unsere kleinen Nester unter den Tafeln. Die können uns doch nicht einfach vertreiben!“ „Ich hab ja immer gesagt, diese wilde Nestbauerei in irgendwelchen kleinen Nischen und Spalten geht auf die Dauer nicht gut“, mischt sich der angeberische Egon ein. „Ordentliche Nistkästen, wie unser Spatzenhotel müssen her“, fordert er lauthals. „Du hast gut reden“, tönt es im Chor, „eure Spatzenkolonie, die du großspurig Hotel nennst, ist die einzige weit und breit. Warum gibt es denn immer weniger Spatzen? Nur weil wir keinen Platz finden, um Nester zu bauen.“

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„Die Häuser werden immer glatter und dichter. Nirgendwo noch kleine Fehlstellen, wo wir uns mit einem Nest reinzwingen können“, erzählt Willi, der sich inzwischen etwas beruhigt hat. „Dabei habe ich noch vor kurzer Zeit unseren Hausbesitzer gehört, wie er sich geweigert hat, die kaputte Fassadenplatte zu ersetzen. Da sind Spatzennester dahinter, hat er gesagt, die mache ich nicht weg. Und jetzt das! Vielleicht baut er uns ja auch so eine schöne Spatzenkolonie wie der Nachbar.“ „Und wovon träumst du nachts“, zerstört Susi die Illusionen ihres Partners. „Warum eigentlich nicht“, stellt sich Iris an Willis Seite. „Jeden Winter stellt er ein Vogelhäuschen mit Futter auf und sorgt immer für Nachschub. Für seinen Enkel hat er sogar ein richtiges Baumhaus gebaut. Da könnte er uns schon ein paar Nistkästen bauen oder kaufen und irgendwo aufhängen.“

Allmählich legt sich die Aufregung. Die Spatzen fliegen in alle Richtungen weg und beobachten aus sicherer Entfernung, wie in kürzester Zeit das Dach und die Giebelverkleidungen abgeräumt werden. Die Reste der Nester fliegen im hohen Bogen zusammen mit krachend zerberstenden Dachpfannen in den Abfall. Neue Spannfolien, dicke Isolierplatten und neue Dachlatten verändern in einigen Tagen das ganze Haus. Als ein riesiger Kran seinen Mast ausfährt und die neuen roten Dachziegel emporhebt, staunen nicht nur die Menschen. Auch die Spatzen beeindruckt dieses Geschehen so sehr, dass sie kurzzeitig verdrängen, welche Katastrophe dieses Bauvorhaben für sie bedeutet. Emsig fliegen die Dachpfannen von Hand zu Hand und landen dann präzise auf dem Dach. Die rote Dachhaut wächst immer schneller und leuchtet weithin. Die Giebelverkleidung aus unzähligen Schieferplatten vollendet die Arbeit. Das Gerüst wird abgebaut und das neue Dach schließt energiesparend jede mögliche Lücke. Das macht den Vögeln klar: Hier gibt es keine Nistmöglichkeit mehr.

Der Winter mit Nässe, Eis und Schnee läßt die Spatzen überdeutlich spüren, dass sie keinen Unterschlupf mehr haben. Da helfen auch die Lichterketten in der Adventszeit nicht weiter.

„Ich habe gesehen, wie sich die Menschen zu Weihnachten mit leckerem Essen den Bauch vollschlagen und sich reichlich beschenken. Da könnten sie uns doch ein paar Nistkästen spendieren, wo wir uns ein bisschen aufwärmen können und im nächsten Jahr für Nachwuchs sorgen“, murmelt Willi, während er beim Schmücken des Christbaums im Wintergarten zusieht. „Du bist eben ein unverbesserlicher Optimist“, erwidert Susi und schmiegt sich an ihren Partner.

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Dass der Hausherr in den letzten Tagen stundenlang in seiner Kellerwerkstatt gewerkelt hat, haben die Vögel nicht mitgekriegt. Erst als er mit einer langen Leiter erscheint und zwei längliche Holzkästen herbeischleppt, die dem „Spatzenhotel“ am Nachbarhaus sehr ähneln, kommt Bewegung in die frustrierten Vögel. Aufgeregt zwitschernd beobachten sie, wie die NistkästenKolonien hoch oben am Giebel montiert werden. „Das sind ja acht Nester“, zählt Susi, „da können wir ja ein richtiges Dorf gründen.“ Als hätte es eine geheime Verabredung gegeben, wimmelt es plötzlich von Spatzen, die sich um die Nistkästen streiten, sobald die Leiter entfernt ist. Willi und Susi kümmert das nicht mehr. Die haben sich blitzschnell den ersten Eingang ergattert und sitzen eng aneinander geschmiegt in dem kahlen Kasten, dem natürlich noch das kuschelige Nest fehlt. „Du Optimist hast doch noch recht behalten“, flötet Susi. „Ob das jetzt bei uns so ist, wie bei den Menschen Weihnachten?“ Später steht unten die ganze Familie und bewundert im Schein einer Taschenlampe das Werk des Hausherrn. Aber das stört die Spatzen da oben überhaupt nicht.
 
© Fischer + Siegmund 2008

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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