Kurzgeschichten
Kalle kriegt die Kurve

Eben kringelt sich Kalle noch auf seiner Lieblingsdecke, da öffnet sich die Autotür. „Fein“, denkt er, „schnell mal Pippi machen“ und wuscht hinaus in die Nacht. Aber noch bevor er das Beinchen hebt, klappt die Tür wieder zu und das Auto schmirgelt mit durchdrehenden Reifen davon. Stille. Kalle vergisst vor Schreck, Pippi zu machen. Verdutzt reibt er sich mit einer Pfote die Äuglein. „Was war das nun?“ Herrchen ist weggefahren? Ohne ihn?
Kalle schickt ein klagendes „Wuff-Wuff“ in die Dunkelheit. Nichts. Keine Antwort. Kein Auto. Kein Herrchen. Er schnuppert um sich. Alles riecht zwar hochinteressant aber auch irgendwie leer. Kalte Nässe streicht um seine Nase. Seine Ohren vernehmen  nur das Rauschen der Autobahn. Er läuft zur Fahrbahn. Lichter flitzen an ihm vorbei. Wo ist Herrchen?

Hatte Herrchen „Sitz“ gesagt? Kalle sitzt wie angeklebt. So wartet er viele Stunden und sein Bauch knurrt fürchterlich. Ab und zu schleicht er zu einer Pfütze und schlabbert ein wenig. Über ihm raschelt es. „Da kannst du lange warten“, keckert ein Rabe. Kalle reißt den Kopf hoch. „Wieso?“, schickt er seine Frage in den dunklen Baumwipfel.  „Das ist jedes Jahr so“, tönt es aus dem Baum, „wenn die Menschen in den Weihnachtsurlaub fahren, setzen sie  hier ihre Tiere aus. Kannst froh sein, dass sie dich nicht angebunden haben!“

Kalle ergreift tiefe Trauer. Abgeschoben. Weggeworfen. Noch gestern hatten sie vor dem Kamin gekuschelt. Und Herrchen war besonders freigiebig mit Leckerli. Kalle weint dicke Tränen. Er schluchzt so laut, dass ein Igel aus dem Winterschlaf erwacht.  „Ruhe“, wettert der, „meine Frau ist gerade erst eingeschlafen!“ „Tschuldigung“, flüsterte Kalle mit verheulter Stimme, „was mache ich denn jetzt bloß?“ Wieder meldete sich der Rabe aus dem Baum „Auf alle Fälle weg von der Autobahn, sonst bist du platt wie ein Schnitzel“. Kalle denkt an Schnitzel und schluchzt noch mehr. Hunger.

„Ich muss wohin, wo Menschen sind“, rekapituliert er laut vor sich hin und macht sich auf den Weg.  Im Wald trifft er Rehe. „Geht es hier zu den Menschen“, fragt er vorsichtig. Die lachen nur: „hoffentlich nicht“ und trollen sich davon. Dann läuft ihm eine Katze über den Weg. Sie macht einen Katzenbuckel und faucht. Kalle beruhigt sie, „keine Angst, ich tu dir nix“. Die Katze argwöhnisch: „Was bist denn du für einer“, fragte sie. Kalle kleinlaut: „Mir ist das Katzenjagen vergangen. Mein Herrchen hat  mich verlassen und nun weiß ich nicht wohin? Und Hunger habe ich auch. Entsetzlich“. „Ohweh, ohweh“ maunzt die Katze und denkt nach. „Nach Hause kann ich dich nicht mitbringen, die haben Hunde-Allergie. Kalle schnieft: “Pah, Hunde-Allergie.“

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Dann hat die Katze doch eine Idee. „Komm mit auf den Friedhof, dort weiß ich ein Plätzchen, wo du heute Nacht schlafen kannst. Das ist zwar nicht warm, aber windgeschütz.“ Kalle trollt hinter der Katze her. Sie riecht nicht wirklich gut, eben wie eine Katze. Aber sie will ihm helfen. Und dafür kneift er seine Nasenlöcher zu. Die Lichter in den Häusern um den Friedhof lassen Mut schöpfen. Vielleicht gibt es dort ein neues Zuhause?
In der Nacht schneit es. Kalle drückt sich in eine Nische der Friedhofskapelle und wärmt seine Pfoten mit seinem Atem. Immer wieder blickt er hoch zum Mond. „Ich bin ja so traurig.“ Nach einer Stunde kommt die Katze und legt ihm etwas vor die Pfoten. „Hier friss.“ „Igitt“ entsetzt sich Kalle: „…eine Maus“. Beleidigt zieht die Katze wieder ab. „Dann musst du eben Kohldampf schieben“.

Als der Morgen dämmert, leckt sich Kalle die Eiszapfen aus dem Fell. Der Hunger schmerzt so sehr, dass er gefrorene Erikablüten von einem Grab frisst. Dann läuft er aus dem Friedhof ins erwachende Dorf. An der Bushaltestelle balgen sich Kinder im Halbdunkel. Irgendwie duftet es nach Leberwurst und er fühlt sich magisch angezogen. Dann entdecken sie ihn und bewerfen ihn mit Schneebällen. Kalle bellt: „ungezogene Lümmel“. Er bleibt trotzdem stehen. Dieser Duft nach Leberwurst fesselt ihn. Dann kommt der Schulbus und alle Kinder steigen ein. Kalle schleicht zur Haltestelle. Wo ist die Leberwurst? Ihr Duft strömt aus einem Drahtkorb. Der hängt aber viel zu hoch. Er wird  bald ohnmächtig vor Verlangen. Dann springt er hoch und landet mit drei Beinen im Abfallkorb. Laut jault er auf; denn er hat sich sehr weh getan. Noch schlimmer: Das Leberwurstbrot liegt nun unter ihm und er kann es nicht mit dem Maul erreichen. Noch viel viel schlimmer: So sehr er auch zappelt, er kommt nicht mehr heraus.

Kalle verzweifelt und jault und winselt, dass es einen Stein erbarmen könnte. Nirgendwo eine gute Seele? Thomas Geiger ist wie jeden Morgen unterwegs zum Friedhof, um das Grab seiner Frau zu besuchen. Mit schleppenden Schritten stapft er durch den Schnee. Das erste Weihnachtsfest ohne sie. Ganz allein. Mit in sich gekehrtem Blick schreitet er fast mechanisch voran. Er hätte auch keinen Blick zur Bushaltestelle geworfen, wäre von dort nicht ein jämmerliches Jaulen zu hören. Da sieht er das Unglück.

Thomas hebt Kalle aus seinem Gefängnis. Der kann nicht mal mehr stehen, so weh tun Pfoten und Bauch. Sogar das Leberwurstbrot ist vergessen. Thomas ist entsetzt. Wie kann man ein Tier so quälen. Kalle zittert am ganzen Körper. An zwei Stellen rinnt Blut aus dem Fell. Thomas trägt Kalle auf den Armen. „Da muss der Tierarzt ran“, konstatiert er. Kalle ist alles egal.

„Was machen wir denn jetzt mit dem Patienten?“, fragt der Tierarzt, nachdem er zwei Stellen am Bauch genäht und Kalle eine Halskrause verpasst hat. „Solange ihn niemand vermisst, braucht er Pflege“. Kalle blickt mit seinen Knopfaugen flehentlich zu Thomas: „Nimm mich bitte mit“. Thomas: „Ich habe ja noch das Körbchen von unserer Senta“. Wieder wimmert Kalle: „Und Hunger habe ich auch“. Thomas blickte ihm tief in die Augen und sieht eine verzweifelte Hundeseele.

Am Heiligen Abend humpelt Kalle noch immer, aber er begleitet Thomas zum Friedhof. Dort bleibt er vor dem Tor artig sitzen und spitzt ängstlich durch die Gitterstäbe, bis Thomas zurück kommt. Der hatte den Nachbarn von der Tierquälerei erzählt. Freilich konnte Kalle das nicht richtigstellen. Hauptsache: Er hat wieder ein Zuhause. Auch wenn er jetzt Jonny heißt.

© Fischer + Siegmund 2013


 

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Letzte Aktualisierung 12.01.2023

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