Kurzgeschichten
Tulpen im Schnee

Im Garten rumort es. Was ist da los? Im Dezember ruht der Garten. Normalerweise.
Ein Rudel Tulpenzwiebeln erwacht zum Leben. Ihnen ist es viel zu warm. Ja ist denn schon Frühling? Nö. Es ist dunkel wie in der Nacht. Und kein Lichtschein kündigt an, dass es Zeit wird, um auszutreiben. Ihre Wurzeln umschlingen den warmen Boden und saugen nach Feuchtigkeit.
Und aus ihren Köpfen sprießt neues Leben. Es geht los mit dem Wachstum. Aber die Triebspitzen stoßen an etwas Festes. Ein Dach? Das kann doch nicht sein. Ein paar Regenwürmer gesellen sich dazu und fressen sich durch die Erde. Eigentlich sollten sie im gefrorenen Boden Winterschlaf halten. Aber auch ihnen ist es zu warm und sie kringeln sich um die Tulpenzwiebeln. „Öi, lass das, meckert die eine Zwiebel“. Eine zweite Zwiebel ruckelt hin und her: „Wo geht’s denn hier raus? Ich brauche Luft und Licht zum Sprießen!“ „Hier geht’s nicht weiter“ jammern die anderen Zwiebeln, „wir versuchen es schon einige Tage; aber irgendetwas lässt uns nicht raus. Es ist, als ob wir alle unter einer Decke stecken!“ Das Mäuschen Hannibal Verschluckt sich fast vor Lachen: „Unter einer Decke stecken; das klingt lustig. Wenn ich das erzähle, kriege ich sofort Ärger mit meiner Frau!“
Im Garten stehen Ute und Bernhard und grübeln über die Beulen, die sich auf dem Beet gebildet haben. Ein neunmalschlauer Gartenbauer hat ihnen ein Bodenvlies angedreht, um das Unkraut zu ersticken. Mehrere Beete im Garten hat er damit eingedeckt und behauptet, das sei seniorenfreundlich, weil kein Unkraut mehr zu jäten sei. Das klang ja irgendwie logisch. Aber auf die Pflanzen und Zwiebeln im Boden scheint das keinen Eindruck zu machen. Sie schwitzen unter der Vliesdecke. Die Wärme gaukelt ihnen vor, es sei bereits Frühling, dabei ist es kurz vor Weihnachten.
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Die Zwiebeln ahnen davon nichts. Aber sie mobilisieren all ihre Kräfte und stemmen sich gegen die Decke auf ihrem Kopf. Und tatsächlich gibt es etwas nach. Heller wird es aber trotzdem nicht. Ihr Aufruhr steckt ein weiteres Zwiebelnest an. Dort sind es Narzissen, die ebenfalls Frühlingsgefühle spüren.
Hannibal hat ihnen schon erzählt, dass die Tulpen nebenan kämpfen. Wie kann man helfen? Hannibal flitzt durch den Garten und schleppt Ästchen herbei, mit denen sich die Vliesdecke hoch-stemmen lässt. Zu schwach. Dann kollert er Steine herbei und türmt sie um die Zwiebeln hoch. Ein mühsames Geschäft. Er pfeift Vetter Micky herbei, damit der hilft, weitere Steine aufzusta-peln. Doch das alles nützt nichts; denn die Zwiebeln treiben weiter. Ihre Sprossen knicken schon um und wölben das Vlies immer höher.
Da begreifen Bernhard und Ute, was zu tun ist. Sie ergreifen die Vliesdecke an einer Seite und rollen sie vorsichtig auf. Man hört regelrecht das Aufatmen der Zwiebeln, erkennt das Recken und Dehnen der grünen Stiele und Blätter. Hannibal und Micky finden das toll. Obwohl sie wissen, dass Bernhard und Ute Mäuse nicht gerade mögen. Sobald sie im Freien hocken, flitzen sie sofort in ein Versteck.
Drei Tage später, am Heiligabend, schneit es sogar. Das stört die Tulpen und Narzissen aber überhaupt nicht. Rot, Rosa und Gelb leuchten sie über der weißen Schneedecke und wiegen hin und her. Und als Bernhard und Ute am Heiligenabend die Lichter an ihrem Christbaum entzünden, sitzen Micky und Hannibal mit ihren Familien ver-steckt in ihren Erdlöchern. Sie knabbern ein paar Samen und Nüsse, die sie extra aufgehoben haben und lauschen dem Gesang der Tulpen.
Können Tulpen singen? Und wie! Aber nur am Heiligen Abend.

© Fischer + Siegmund 2022

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Letzte Aktualisierung: 22.12.2024